Heute kam eine Anfrage rein, in der "Super 8 Filme aus der NS- Zeit, eine Wochenschau und anderes Material" angefragt wurde.
Grundsätzlich eine einfache Anfrage, die mich aber stutzig machte. Warum?

  1. Wochenschau wurde in der Regel auf 35mm, selten auch auf 16mm Film gedreht.
  2. Super 8 kam erst Mitte der 1960-er Jahre auf den Markt und Normal 8 wurde meines Wissens nach nicht für offizielle Filmproduktionen im III.Reich verwendet.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um Nitrofilm handelt ist sehr groß.
Ein Telefonat verdichtet die Annahme, der Film ist 35mm breit. Er lag Jahrzehnte im Keller eines polnischen Hofes und ein Bild zeigt den "Führer" mit dem üblichen Gruß, anscheinend nach der Kapitulation Frankreichs.
Der Besitzer berichtet, dass der Film vom Großvater stammt, der nach dem II.Weltkrieg als Lehrer in der Region arbeitete und dem man allerlei Dinge zutrug...
Die Anfragenden hoffen, dass es sich hier um wertvolles Material handelt, haben aber keine Vorstellung davon welches Risiko sie jetzt eingegangen sind. Der Film liegt im Kofferraum eines PKW, in dem er von Polen nach Deutschland gebracht wurde....
So oder ähnlich werden täglich Filme (Foto u. Cinefilm) hin- u. hergeschickt, übernommen und unter unzulässigen Bedingungen, auch in Archive und Museen eingelagert.

Weitere Informationen sind u.a. hier:
https://kulturgutsicherung.de/files/1_BasisinformationenzuNitrozellulosemedienimArchiv.pdf

    archium hat den Titel zu Beispiele aus der Praxis – Achtung Nitrofilm! geändert ().

    Jörg Michels, avantmedia

    Lieber Jörg,

    da muß ich zugeben, selber Anfang der 2010er Jahre noch relativ unbekümmert Zelluloidfilm digitalisiert zu haben. Sprich, wir haben ihn einfach angenommen bzw. abgeholt, gekühlt gelagert, zuvorderst abgearbeitet und dann dem Kunden ganz schnell mit einem noch vergleichsweise unbeholfenen Gefahrenhinweis zurück gegeben. Der Transport erfolgte genau so wie in Deinem Bericht – in einer gewöhnlichen luftdichten Alu-Kiste im Kofferraum eines gewöhnlichen (nicht luftdichten) PKW. Die Mengen waren überschaubar.

    Ich vermute nun, daß heute etliche Besitzer solcher Filme sich so verhalten, als wüßten sie nichts von der Gefahr und auch bis zum Abschluß einer Digitalisierung am liebsten noch gar nichts vom Risiko wissen wollten , weil der Aufwand, sobald man dann davon weiß, doch signifikant zunimmt. Ich fürchte auch, daß manch ein Archivar (insbesondere in Unternehmensarchiven) Schwierigkeiten bekommt, den finanziellen Mehraufwand für sein knappes Budget zu rechtfertigen, weil man den Filmchen ihre Gefährlichkeit ja nicht ansieht.

    Aber welches Verhalten wäre denn nach gegenwärtigem Stand der Technik zu empfehlen und regelkonform? Was hätten Deine Polnischen Gäste machen sollen? Hätten Sie das Material irgendwo vor dem Transport anmelden müssen? Welche Transportbehälter sind vorgeschrieben? Und was gilt für die Lagerung nach Übernahme und insbesondere die anschließende Entsorgung dieser Schießbaumwolle?

    Lieber Klaus,

    Deine Erfahrung ist symptomatisch!
    Die Besitzer dieser Medien und das sind nicht nur Archive sondern auch Privatpersonen sind mit den einfachsten Regeln im Umgang mit Nitrozellulose nicht vertraut. Die einen denken sich "was solls" und andere sind übervorsichtig. In beiden Fällen ist Unwissenheit die Ursache! Wie überall in unserem analogen Leben gibt es aber zwischen den digitalen Zuständen "1" und "0" noch unendlich viele andere Zustände. In jedem Fall sollte eine indivduelle Beurteilung der Lage erfolgen. In welchem Zustand befindet das Material? Wieviel ist es? Was passiert nach der Digitalisierung damit? Das sind nur einige Aspekte der Betrachtung. In keinem Fall darf uns eine von Angst und Panik getrieben Entscheidung treiben.

    Nach Möglichkeit sollen alle in Frage kommenden Dienstleister verpflichtet werden die Materialien zu besichtigen. Der Transport ist beim Dienstleister auch in der richtigen Hand denn das ist ein Gefahrguttransport der nach ADR besonderen Auflagen unterliegt. Eine erfahrener Dienstleister sollte wissen welche Unterlagen er als Frachtführer mitführen muss. Ein Kühlfahrzeug ist nicht zwingend nötig, Styroporboxen mit Eisakkus geben mehr Sicherheit und ein Transport bei 30°C im Kofferraum eines schwarzen KFZ sollte aus Vernunftsgründen auch unterlassen werden.
    Bei kleineren Mengen ist auch der Paketversand als "Gefahrgut" eine gute Alternative. Auch hier gilt es sich VORHER kundig zu machen was dafür nötig ist.

    Das Beispiel aus meinem ersten Beitrag ist ein echter Klassiker wie wir ihn hier mindestens einmal im Monat erleben.
    Eine Lösung für den Kunden habe ich nicht. Ich kann ihn nur belehren und informieren. Was er am Ende macht kann ich nicht beeinflussen.
    Oder um es anders auszudrücken, ich muss ihn mit seinem Problem alleine lassen!

    Leider weigert sich das Bundesarchiv, welches sich in einer geringen Entfernung von unserem Firmensitz in Hoppegarten befindet, grundsätzlich so ein Nitromaterial anzunehmen und zu vernichten. Auch nicht gegen Bezahlung!

    Das ist in meinen Augen einfach nur skandalös! Allenthalben reden wir von Umweltschutz und was glaubt ihr wird der polnische Gast nun machen? In seinen Keller legt er es bestimmt nicht wieder, aber der Weg nach Hause führt ihn durch waldreiche Gegenden...ist nur so ein Gedanke!

    Im Bereich der Gedächtniseinrichtungen kann die bundeseigene GEKA GmbH mit der Entsorgung beauftragt werden. Rechnen Sie hier bitte aber mit mindestens 500,00Euro für Kleine und Kleinstmengen!

    Ansonsten ist jede Lagerung die vom übrigen Archivgut getrennt ist besser als nichts. Auch ein alter Kühlschrank ist besser als ein warmer Keller und sollte das Problem als Interimslösung entschärfen.
    Separierte Bunker, wie sie das Bundesarchiv in Hoppegarten unterhält, werden in den meisten Fällen nicht zur Verfügung stehen.
    Vielleicht liest hier ja auch ein Mitarbeiter vom Bundesarchiv mit und klinkt sich ein!

      Jörg Michels, avantmedia

      … heißt das, Du siehst eine reelle Gefahr, daß Bestände aus Kostengründen dann eher stillschweigend "aufgegeben" werden, anstelle sie zu digitalisieren? (Ganz ähnlich digitalen Datenträgern, für die es keine einfachen Lesetechnologien mehr gibt.)

      genauso ist es!
      In Deutschland akzeptieren wir anscheinend eher den Informationsverlust anstatt unserer Pflicht zur Bewahrung nachzukommen weil es unbequem und teuer ist.

        5 Tage später

        Jörg Michels, avantmedia
        Das ist nicht mehr nur ein deutsches Phänomen. Wenn Geschichte der Identifikation dient, dann ist die Leidenschaft für den Erhalt historischer Zeugnisse größer und geht dann auch die Kür weit über die Pflicht hinaus. Mit scheint es ein Merkmal unseres Zeitalters zu sein, Geschichte nun eher als Bürde zu sehen, die der Abschreckung dient. Das macht es jenen, die Bestandserhaltung betreiben müssen (und wollen!) wesentlich schwerer.

        2 Monate später

        In den letzten 6 Wochen habe ich verstärkt mit Archiven telefoniert und die Themen:

        • Nitrozellulose im Archiv
        • DVD im Archiv
        • langzeitsichere Digitalisierung von A/V- Medien

        angesprochen.
        In vielen Fällen herrschte wieder große Unsicherheit in diesen Fragen. Es ist und bleibt also immer wieder wichtig diese Fragen zu thematisieren.
        Auch wenn Anfragen zur Digitalisierung gestellt werden rufe ich grundsätzlich zurück und versuche hier zu sensibilisieren.
        In der Folge wurde ein Projekt jetzt erst einmal verschoben weil die Negative (aus der Zeit der Weimarer Republik bis in die 1970-er Jahre) analysiert und sepatriert werden müssen. Der Einrichtung war es nicht bekannt das sie Nitrozellulose im Archiv hatten.
        Gut, dass wir darüber gesprochen haben!

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